Folgenden Redebeitrag hielt GAL-Ratsfrau Brigitte Hasenjürgen zur Umbennnung des Hindenburgplatzes (Vorlage V/0178/2012) in der Ratssitzung am 21.3.2012:
Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Damen und Herren,
es freut mich, dass ich diesen Auseinandersetzungsprozess miterleben darf.
Denn wer eine lebendige demokratische Kultur will, der will auch eine Erinnerungskultur, die sich verändert, wenn neue Fakten auf dem Tisch liegen.
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse haben die Figur Hindenburg entzaubert.

Das kann irritieren, einige ältere Menschen trifft es bis ins Mark, wenn ihr Bild von Hinden­burg kaputt geht. Es verwundert auch nicht, dass einige emeritierte Professoren ein Bürger­begehren anstrengen wollen: denn die Jahrgänge vor meinem sind mit der Softversion groß geworden, dass die national konservativen Kräfte von Hitler „verführt“ worden sind und dann bis 1944 gebraucht hätten, Moral und Vernunft wieder zu entdecken. Das ist bekannt­lich eine durch die neuere Forschung überwundene Position – hier muss ganz „kaltherzig“ auf Erkenntnisfortschritte verwiesen werden.
Wir werden heute den Hindenburgplatz umbenennen, weil wir dank unseres kollektiven Geschichtsunterrichts, den wir in dieser Stadt genießen durften, aufgeklärter sind als früher. Wir werden uns weiter an Hindenburg erinnern, aber nicht als einen Menschen, dessen Na­me auf ein Straßenschild gehört.
Wir erinnern uns an einen entzauberten Hindenburg.
Der historische Hindenburg war
:

  • ein überzeugter Monarchist
  • ein Militarist, der es verstand, die militärischen Erfolge anderer als die eigenen aus­zugeben (so entstand der Mythos von Tannenberg) und der ab 1916 systematisch verhindert, dass es zu einem Verhandlungsfrieden kommt und damit Tausende Le­ben (auch in der Logik militärischen Denkens) aufs Spiel gesetzt hat
  • jemand, der nach dem Krieg bis zu seinem Tode aktiv an der Zerschlagung der jun­gen parlamentarischen Republik teilgenommen hat. So ist z. B. die wirkmächtigste Propagandalüge gegen die Weimarer Demokratie – Legende vom Dolchstoß – ohne die Mittäterschaft von Hindenburg nicht möglich gewesen.
  • ein Reichspräsident, der sich dem Staat, der Nation, dem deutschen Volk, der „Volksgemeinschaft“ – aber in keiner Weise der Weimarer Verfassung verpflichtet sah. (Der Vergleich mit dem Präsidenten Wulff im Aufruf der emeritierten Professo­ren ist infam! Er sollte auch die CDU erzürnen.)
  • ein Präsident, der 1932 ohne Not die letzte demokratische Landesregierung in Preu­ßen absetzte (Preußenschlag) und seinen Kanzler Brüning entließ (als er sich zu kom­promissbereit gegenüber den Sozialdemokraten zeigte), obwohl die Republik gute wirtschaftliche Prognosen hatte (die Arbeitslosenzahlen gingen zurück).
  • Unter Hindenburgs Präsidentschaft ist so das Muster entwickelt worden, wie demo­kratische Institutionen „legal“ ausgeschaltet werden konnten. Das war dann das Vorbild für die Gleichschaltungsgesetze im nächsten Jahr.
  • 1933 ging das Ziel Hindenburgs von einer nationalen Konsensregierung in Erfüllung, wie er selbst in seinem Testament schreibt.
    Ich scheide von meinem deutschen Volk in der festen Hoffnung, daß das, was ich im Jahre 1919 ersehnte, und was in langsamer Reife zu dem 30. Januar 1933 führte, zu voller Erfüllung und Vollendung der geschichtlichen Sen­dung unseres Volkes reifen wird. (Hubatsch 1966, S. 383)
  • Hindenburg hat Hitler zum Reichskanzler ernannt, weil er ihm zugetraut hat, die von ihm ersehnte nationale Einheit des deutschen Volkes voran zu bringen – jenseits von Parteienvielfalt, jenseits von pluralen Gesellschaftsentwürfen. Hindenburg ist nicht von Hitler verführt worden, es bestand auch politisch keine Notwendigkeit, Hitler zu fördern, Hindenburg wollte Hitler! Hindenburg ließ sofort die Fahne der Weimarer Republik (schwarz rot gold) einholen und die kaiserliche Fahne zusammen mit der Hakenkreuzfahne hissen.
  • – Hindenburg unterschrieb die Notverordnungen (Ersatzgesetzgebung), die die Presse- und Versammlungsfreiheit außer Kraft setzten, die politische Gegner kriminalisier­ten… Die ersten Konzentrationslager füllten sich mit Sozialdemokraten und Kom­munisten, die antisemitische Gewalt nahm sprunghaft zu, auch hier auf dem Dom­platz brannten Bücher (am 10. Mai 1933).
  • Warum hat Hindenburg Hitler nicht spätestens mit dem Ermächtigungsgesetz (23. März 1933), das endgültig alle rechtsstaatlichen Garantien beseitigte, entlassen – wie er es zuvor mit Brüning, Papen und Schleicher getan hat? Er hat nichts unternommen, weil es ihn nicht störte, dass 81 kommunistische Abge­ordnete bei der Abstimmung nicht anwesend waren, da eine Verordnung ihnen die Parlamentssitze bereits entzogen hatte. (Sie waren ohnehin im Gefängnis oder auf der Flucht.) Weil es ihn auch nicht störte, dass von den 120 gewählten Sozialdemokraten nur 94 mit nein stimmen konnten. Die anderen waren auf dem Weg ins Ausland oder in Haft.
    Außer den Sozialdemokraten hatten alle anderen für das Ermächtigungsgesetz ge­stimmt – ein katastrophales politisches Versagen, das auch nicht vergessen werden darf.

Wenn wir uns heute an Hindenburg erinnern, dann an eine „Unheilsfigur“ (Hans-Ulrich Thamer), an eine Figur mit exemplarischer Bedeutung für unser Geschichtsbild.
Die Fakten zu Hindenburgs Person und zum Kontext seines Wirkens liegen auf dem Tisch – jetzt werden wir den Namen vom Straßenschild entfernen.